Ich habe lange überlegt, ob ich Sie / Euch, liebe Leserinnen und Leser, an einer Kurzgeschichte teilhaben lassen soll, die ich vor gut 20 Jahren geschrieben habe. Aufgewühlt durch fremdenfeindliche Gewalttaten in unserem Land, habe ich damals einen Teil meiner Gefühle und meiner Ohnmacht in eine Geschichte gepackt.
„Wenn Hass entsteht, wird nichts besser, aber alles schlimmer. Hass darf als Mittel der Konfliktlösung niemals geduldet sein!“ – Joachim Gauck hat das gesagt, so lese ich im Tagesspiegel [http://www.tagesspiegel.de/politik/rostock-lichtenhagen-fremdenfeindlichkeit-in-der-mitte-der-gesellschaft/7056834-2.html] und es stimmt.
Weil es stimmt, und weil mich die Geschehnisse immer noch berühren, teile ich heute die kleine Geschichte mit Ihnen / Euch. Gewalt darf keine Lösung sein, selbst wenn uns das Andersartige noch so fremd und unverständlich erscheint. Wir wollen alle ohne Angst leben und dieses Recht auch unseren Nachbarn zugestehen. Ein friedliches Miteinander ist mir wichtig, und dafür setze ich mich ein. Jeden Tag.
Wer sensibel auf Gewaltschilderungen reagiert, lese bitte sehr vorsichtig.
1992 entstand diese kleine Geschichte:
Der rote Schnee
Weiß. Alles weiß. Staunend stand er in der klirrenden Kälte, im Schnee. Es war neu für ihn,
dieses weiße kalte Etwas. Es war einfach da, über Nacht gekommen, still und heimlich.
Schwarz zeichneten sich die Silhouetten der kahlen Bäume ab, schwarz, so wie er.
Erst wenige Tage war er hier, hatte Schutz gesucht, Schutz vor den Greueltaten, denen er in
seiner Heimat ausgesetzt war. Er wußte, hier war er sicher.
Noch immer staunend über diese weiße Welt schaute er sich um.
Da sah er sie.
Eine Gruppe Menschen, die langsam näher kamen. Sie hatten Knüppel dabei.
Er schüttelte den Kopf, kniff die Augen zu, öffnete sie wieder. Wenn er nur diese
schrecklichen Tagträume abschalten könnte, die ihn an zuhause erinnerten.
Die Gestalten kamen auf ihn zu, immer näher. Es waren Weiße. Einer schrie etwas. Er
verstand den Sinn der Worte nicht, doch plötzlich wurde ihm kalt.
Es war kein Traum.
Er spürte die Kälte, die vom weißen Schnee kam; und er spürte den Haß, der von den
Weißen ausging. Ausging von denen, bei denen er sich sicher fühlen wollte.
Immer näher kamen sie, schwangen drohend ihre Knüppel.
Er begann zu laufen, weg, nur weg, schnell weg. Er rannte. Jetzt rannten auch sie, jagten
ihn, hetzten ihn wie ein Tier. Schrien und johlten, kamen näher und näher.
Er keuchte, stolperte, fing sich wieder, lief um sein Leben wie schon so oft.
Er hatte Angst.
Wagte nicht, sich umzudrehen. Wußte nicht, wohin er lief. Wollte fliehen.
Wußte nicht, warum sie ihn jagten. Im Land der Sicherheit.
Nun waren sie ganz nah. Er hörte sie atmen, spürte förmlich ihre Schreie.
Er rutschte aus, fiel. fiel in den weißen Schnee, schlug auf dem schneebedeckten Boden auf.
Hörte ihr Triumphgeheul wie Sirenen.
Aufstehen, weg, nur weg von hier, dachte er.
Da waren sie über ihm. Fassungslos starrte er sie an.
Von unten die Kälte des weißen Schnees, von oben der Haß der weißen Knüppelträger. Er
wollte schreien, bitten, betteln, doch kein Laut kam über seine Lippen.
Da kamen sie, die Schläge, die brutalen Schläge, denen er hatte entfliehen wollen. Tritte,
Schmerzen, er krümmte sich, seine Augen flehten.
Blut tropfte von seinem Kopf, seinen Lippen, hinein in den Schnee, färbte ihn.
Der weiße, unschuldige Schnee wurde rot, rot von seinem Blut.
Endlich ließen sie von ihm ab, verschwanden.
Kälte, Schmerz. Sein Körper ein einziger Schmerz. Blut.
Und der Schnee fiel.
Er erhob sich mühsam auf die Knie.
Schmerzen.
Um ihn der Schnee. Der rote Schnee.
Er kroch auf allen Vieren, ein einsamer schwarzer Fleck vor den kahlen schwarzen Bäumen.
Glocken läuteten in der Ferne, läuteten den Weihnachtsmorgen ein.
Der weiße Schnee hatte seine Unschuld verloren. Er war rot geworden.
Der Schnee war rot.