Kleines Jubiläum

Heute vor einem Jahr habe ich hier den ersten Beitrag geschrieben.
Viel ist in diesem Jahr passiert, ich habe einiges veröffentlicht, vieles verworfen, habe Spaß am Schreiben gehabt und manchmal auch überhaupt keine Lust.

Über jemanden, der keine Lust zum Schreiben hat, habe ich im Herbst 1999 mal geschrieben.
Hier ist die Geschichte der Schreibblockade.
Viel Spaß beim Lesen!

„Es ist mal wieder Zeit für eine neue Geschichte, sagte sein Verleger.
Warum schreibst du eigentlich nicht mehr? sagte seine Frau.
Ich vermisse das Klappern der Schreibmaschine, sagte sein Sohn.
Ich brauche neue Schuhe, sagte seine Tochter.
Trink noch einen, sagte sein Zechkumpan.
Man hat schon lange nichts mehr von ihm gehört, schrieb sein schärfster Kritiker.
Warum schreibst du mir keine Briefe mehr? beschwerte sich seinen Mutter.
Früher hast du jeden Tag geschrieben, stellte sein Freund fest.
Wir werden steif! meldeten seine Finger.
Ich werde löchrig, stöhnte sein Gehirn.
Und er bekam Kopfschmerzen.
Jeden Morgen, wenn er aufstand, sah er das erwartungsvolle Gesicht seiner Frau.
Vielleicht könntest du dich heute mal wieder ins Arbeitszimmer an die Schreibmaschine setzen, sagte sie und stellte ihm eine Tasse Kaffee hin. Ich sorge auch dafür, daß du nicht gestört wirst.
Ruhe bitte.
Keine Störung.
Hier sitzt ein kreativer Kopf.
Hier, genau hier, bei der Arbeit.
Bei der Arbeit.
Vor langer Zeit traf das zu.
Aber jetzt, jetzt konnte er nicht mehr.
Er schaffte es einfach nicht, ins Arbeitszimmer zu gehen, wo die Schreibmaschine auf ihn wartete.
Hunderte von Seiten waren noch nicht geschrieben.
Wir müssen über Ihr Konto sprechen, sagte der Sachbearbeiter bei der Bank und seufzte.
Stell dich nicht so an, Papa. Du bist ja wie ein kleines Kind, warf seine Tochter ihm vor, und fügte hinzu, daß sie unbedingt neue Schuhe brauche.
Die Schreibmaschine sah ihn anklagend an, wenn er die Tür zum Arbeitszimmer einen Spalt aufmachte. Sie stand auf dem Schreibtisch, und ein weißes Blatt Papier war bereits eingespannt. Wartete auf ihn.
Machte sich über ihn lustig.
Hielt ihm einen Spiegel vor.
Sieh nur, so leer wie ich sind deine Gedanken.
Du hast keine Ideen mehr.
Du hast keine Energie.
Dein kreativer Brunnen ist versiegt.
Du lebst in einer Wüste, keine Oase weit und breit.
Vielleicht solltest du dir eine Mätresse zulegen, schlug sein Saufkumpan vor.
Wann hattest du zum letzten Mal Verkehr? fragte sein Freund und wurde rot.
Herr K., Ihr Vertrag sieht vor, daß Sie uns regelmäßig etwas vorlegen, mahnte sein Verleger.
Damit wir es verlegen können.
Er schien seine Kreativität verlegt zu haben.
Wenn er nur wüßte, wo er sie hingelegt hatte.
Die Kopfschmerzen wurden stärker.
Das, was er als letztes geschrieben hatte, hatte alles bisher dagewesene in den Schatten gestellt.
Er würde nie mehr etwas so Geniales zu Papier bringen können.
Überhaupt war er doch nur ein Stümper.
Wußte nicht viel vom Handwerkszeug eines Schriftstellers.
Kannte sich in der Weltliteratur nicht aus.
Hatte nur irgendwann beschlossen, daß Schreiben Spaß machte, mehr Spaß, als jeden Tag in ein Büro zu gehen und sich mit Sachen herumzuärgern, die ihn nicht interessierten.
Und es war so einfach, anfangs zumindest.
Die Ideen kamen, manchmal mehr, als ihm lieb waren.
Dann sammelte er sie in einem Heft, und wenn er eine benutzt hatte, strich er sie aus.
Es gab bald keine neuen Ideen mehr in seinem Heft.
Und er fragte sich, ob er während all dieser Jahre das Falsche getan hatte, ob sein Traum in Wahrheit nicht etwas ganz anderes gewesen war, als hauptberuflich zu schreiben.
Aber was?
Er wußte, wenn er herausfand, was es war, dann würden seine Probleme gelöst sein.
Aber du wolltest doch Schriftsteller sein, seit ich dich kenne, wunderte sich seine Frau und führte ihn zum Arbeitszimmer.
Setz dich wenigstens hin und brüte an deinem Schreibtisch. Dann muß ich nicht immer dein nachdenkliches Gesicht sehen.
Und er setzte sich an seinen Schreibtisch und starrte aus dem Fenster.
Schon wieder war es Herbst.
Als er das letzte Mal hier gesessen hatte, war es auch Herbst gewesen, aber das war schon viele Monde her.
Ach ja, der Mond.
Ein Gefährte in einsamen Nächten, wenn er nicht schlafen konnte, und wenn seine Finger sich weigerten, die Schreibmaschine zu berühren.
Vielleicht würde ihm ein Computer helfen.
Als er ging, um einen Computer zu kaufen, hielten ihn alle für endgültig übergeschnappt.
Wozu brauchst du einen Computer, wenn du eh nicht arbeitest, fragte seine Frau.
Können wir im Internet surfen? wollten seine Kinder wissen.
Aber er schloß sich im Arbeitszimmer ein.
Der Bildschirm starrte ihn an, und er starrte zurück.
Stundenlang.
Was hatte er als Kind werden wollen?
Er konnte sich nicht erinnern.
Geh doch mal zum Arzt, riet ihm sein Freund.
Herr K., wir warten auf Nachricht von Ihnen, schrieb sein Verlag.
Sie wurden langsam ungeduldig, alle wurden ungeduldig.
Und auch seine Kopfschmerzen wurden ungeduldig.
Wozu sind wir eigentlich da, schienen sie zu fragen.
Wir können dich nicht mehr quälen, du hast dich schon zu sehr an uns gewöhnt.
Und sie verschwanden.
Zunächst vermißte er sie, aber dann wandte er sich anderen Dingen zu.
Er wollte die Löcher in seinem Gehirn flicken.
Er mußte herausfinden, was der Traum seiner Kindheit gewesen war.
Er suchte den Traum seiner Kindheit im Internet.
Seine Frau beschwerte sich über die hohe Telefonrechnung, aber er wurde von einer seltsamen Zufriedenheit erfüllt.
Er fühlte sich gut.
Und manchmal meinte er, ein bißchen von der Energie zu spüren, die er noch vor einem Jahr in sich gehabt hatte.
Als er ein Junge gewesen war, hatte man gerade mit der Entwicklung von Computern begonnen, und nun war es schon so weit gekommen, daß selbst Laien eine solche Maschine bedienen konnten.
Er holte sich Bücher über Computer aus der Bibliothek.
Er las stundenlang und vertiefte sich in Schaltpläne.
Er redete mit seinem Computer.
Seine Frau schlief im Gästezimmer.
Trink noch einen, sagte sein Saufkumpan, nun sei doch nicht so.
Ist der Computer wichtiger als ich? wollte sein Freund wissen.
Der Computer war da, wann immer er ins Arbeitszimmer kam.
Er wollte ihn beherrschen, er wollte der Sieger sein.
Genauso, wie er Worte beherrscht hatte.
Er begann, den Computer zu programmieren.
Ich hätte nicht gedacht, daß du das kannst, wunderte sich seine Frau.
Mein Vater kann Computer programmieren, erzählte sein Sohn seinen Freunden.
Kaum zu glauben, was diese Maschine aus dir gemacht hat, sagte sein Freund.
Wir stellen Ihnen hiermit ein Ultimatum, schrieb der Verlag.
Eines Morgens wachte er auf und verspürte einen unwiderstehlichen Drang, das Textverarbeitungsprogramm aufzurufen.
Er begann zu schreiben.
Er schrieb von den verlorengegangenen Träumen eines kleinen Jungen.
Seine Frau begann, sich wieder Sorgen zu machen.
Er hatte kaum Zeit zum Essen.
Seine Finger taten ihm weh, und dennoch konnte er nicht aufhören.
Eine unsichtbare Macht hielt ihn fest, zwang ihn zu schreiben.
Und er genoß es.
Er genoß es wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Sein Kindheitstraum hatte sich zurückgezogen und ließ ihn in Ruhe.
Die Worte fanden wieder den Weg zu ihm und sein Verleger schrieb enthusiastische Briefe.
Sein Sachbearbeiter bei der Bank sprach wieder mit ihm.
Sein Freund kam wieder regelmäßig vorbei und kommentierte den Fortgang der Arbeit.
Und sein Saufkumpan schmiß eine Runde nach der anderen.
Danke für die neuen Schuhe, sagte seine Tochter.
Möchtest du noch einen Schluck Kaffee? fragte seine Frau.
Und er fragte sich, ob er noch normal war.“

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Filed under Geschichten, Sammelsurium

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