Der Liebesbrief

Heute mal wieder eine kleine Geschichte – Menschen mit zartem Gemüt oder ohne Sinn für den Wahnsinn des Lebens lesen bitte vorsichtig. Es geht nicht um Romantik und Blümchen 😉

„Gestern wäre ich in der Stimmung gewesen, einen zu schreiben. Ich habe es nicht getan. Warum, weiß ich nicht. Ich war so richtig schön melancholisch geworden nach der Lektüre dieses Buches, in dem es um Liebe ging, und niemand war getrennt von seinem Liebhaber, so wie ich. Ich hätte mich wirklich hinsetzen sollen, und einen Liebesbrief schreiben. Denn heute fällt es mir ziemlich schwer, mich wieder in diese Stimmung hineinzuversetzen. Warum eigentlich? Ich meine, wenn ich gestern genauso stark verliebt war wie heute, das heißt, wenn ich heute immer noch so stark verliebt bin wie gestern, sollte das doch eigentlich ein Leichtes für mich sein. Bedeutet die Tatsache, daß ich heute nicht in der Stimmung bin, einen Liebesbrief zu schreiben, daß ich nicht mehr liebe? Daß ich nicht mehr so sehr liebe wie gestern? Daß die Liebe etwas Vergängliches ist?
Gut, daß die Liebe vergänglich ist, bleibt eine Tatsache. Niemand liebt ständig und mit der gleichen Intensität. Oder doch?
Wenn das so wäre, dann gäbe es keine Anwälte, die sich auf Scheidungen spezialisiert haben.
Ich hätte wirklich gestern versuchen sollen, einen Liebesbrief zu schreiben. Ich habe ja wirklich lange genug darüber nachgedacht, ob ich es tun sollte, aber warum ich es letztendlich nicht getan habe, kann ich mir nicht erklären.
War es Faulheit?
Wenn man zu faul ist, einen Liebesbrief zu schreiben, liebt man dann nicht genug?
Welche Leute schreiben eigentlich Liebesbriefe?
Was ist ein Liebesbrief?
Muß ein Liebesbrief immer eine wirkliche Liebeserklärung enthalten, so mit vielen Beteuerungen, die sich immer um das Wort Liebe ranken? Kann ein Liebesbrief nicht auch einfach ein Brief an den Liebsten sein, an den man einfach einen besonderen Satz anfügt, wie „Ich liebe Dich“.
Aber ist dieser Satz wirklich noch so besonders?
Die meisten Leute verwenden ihn ja fast schon, ohne darüber nachzudenken.
Ich sehe mich außerstande, heute einen Liebesbrief zu schreiben.
Natürlich, wenn ein Liebesbrief einfach nur die Worte „Ich liebe Dich“ enthalten soll, dann ist es einfach.
Aber wenn es mehr sein soll, wenn man mehr Poesie haben möchte, mehr Romantik, dann wird es schon schwieriger.
Gestern wäre ich in der Stimmung gewesen.
Heute ist es zu spät.
Überhaupt etwas Seltsames, so ein Liebesbrief.
Muß er mit Tinte geschrieben werden, und einem Füllhalter von guter Qualität? Genügt Bleistift? Darf es etwas so profanes wie ein Kugelschreiber sein? Oder hat die Farbe eine Bedeutung?
Rot.
Rot wie die Liebe, so sagt man.
Rot wie Blut.
Davon hätte ich ja genug.
Jeder Mensch besitzt einige Liter.
Wie viel es wirklich ist, weiß ich erst seit heute.
Was mußtest Du auch in mein Küchenmesser laufen.
Noch dazu, wo es auf der Höhe Deines Bauches war.
Du hättest ja daran vorbeilaufen können.
Aber Du schienst auch wissen zu wollen, wieviel Blut Du in Dir hast.
Und Briefe wolltest Du von mir, Briefe, in denen ich Dir von meiner Liebe erzählte.
Gestern, ja, gestern hätte ich einen solchen Brief schreiben können.
Da warst Du weg, da war es schön, von Dir zu träumen, und Dich so zu machen, wie du nie gewesen bist.
Ich hätte Dich gerne anders gehabt.
Jetzt habe ich Dich gar nicht mehr.
Du sagst nichts.
Ich glaube, Du bist tot.
Erwartet ein Toter einen Liebesbrief?
Erwartest du immer noch, daß ich Dir einen schreibe?
Du hast immer viel von mir erwartet.
Ich glaube, ich hätte Deine Erwartungen nie erfüllen können, selbst wenn ich es gewollt hätte.
Ich wenigstens habe nicht versucht, Dich zu ändern. Ich habe immer nur geträumt, wie du sein könntest.
Aber glaube mir, ich habe nie davon geträumt, Dich so zu sehen.
Zusammengekrümmt auf dem Küchenfußboden.
Wer putzt eigentlich die Schweinerei weg?
Natürlich, das muß ich wieder machen.
Zum Scheidungstermin hätte ich ja auch erscheinen sollen, da ging es auch nicht ohne mich.
Aber ich bin nicht gekommen.
Scheidung.
Also wirklich.
Du hast Dich bei jemand anderem beschwert über mich.
Hast gesagt, ich sei verrückt.
Daß ich nicht lache.
Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, daß ich zu diesem Termin gekommen wäre? Ich habe doch noch nie Termine eingehalten.
Das hast Du mir oft genug vorgeworfen.
Und jetzt?
Meine Güte, was soll ich jetzt nur machen?
Irgend jemand wird mir wieder Fragen stellen, die ich nicht beantworten will.
Dumme Fragen.
Solche Fragen, wie:
Warum schreibst du mir eigentlich keinen Liebesbrief?
Warum eigentlich?
Hier hast Du ihn.
Hoffentlich bist Du jetzt zufrieden.“

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